Interview mit Mary Dozier: Wie der bindungsorientierte Ansatz die Zukunft der Pflegekinderbetreuung verändern kann.
Gemeinsamer Austausch während des Kongresses (v.r.v.l.): Mary Dozier, Margot Refle, Dr. Janin Zimmermann, Dr. Ina Bovenschen, (h.r.) Melanie Gehring-Weigele und Tobias Henn. © Odenwald-Institut
Melanie Gehring-Weigele, pädagogische Referentin unseres Odenwald-Instituts, stellte gemeinsam mit Dr. Ina Bovenschen und Dr. Janin Zimmermann vom Deutschen Jugendinstitut am Wochenende das ABC-Programm der Karl Kübel Stiftung auf dem GAIMH-Kongress in Wuppertal vor.
Die Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit (German-Speaking Association for Infant Mental Health, GAIMH) setzt sich für die Förderung der psychischen Gesundheit von Säuglingen und Kleinkindern sowie für die Vermeidung und Früherkennung von Fehlentwicklungen ein. Das dort vorgestellte ABC-Programm ist ein bindungsorientiertes Beratungsangebot für Pflegefamilien. Auf Initiative der Karl Kübel Stiftung können sich seit Dezember 2024 Fachkräfte im Odenwald-Institut zum/r ABC-Berater*in ausbilden lassen.
Mary Dozier, die Begründerin des ABC-Programms, hielt auf dem Kongress ebenfalls einen Vortrag über den ABC-Ansatz. Bei einem Treffen, an dem auch unsere Vorständin Margot Refle und Tobias Henn, Abteilungsleiter Inlandsarbeit unserer Stiftung teilnahmen, nutzten wir die Gelegenheit, der amerikanischen Wissenschaftlerin ein paar Fragen zu stellen.
Sie haben viel Lebensenergie in die Entwicklung und Erforschung des ABC-Programms gesteckt. Was hat Sie dazu bewogen?
Mary Dozier: Eines Abends sah ich in den Nachrichten ein kleines Kind, das von seiner Pflegemutter getrennt wurde. Das Kind schluchzte und ich hatte das Gefühl, dass es sich ähnlich fühlen würde, wie mein Kind, wenn es mir weggenommen würde. Gleich am nächsten Tag habe ich mit meinen Studierenden über die Herausforderungen gesprochen, mit denen Kinder konfrontiert sind, die Trennungen erlebt haben. Ich begann, den Prozess zu untersuchen, durch den ein Pflegekind eine neue Bindung entwickelt, wenn es die Pflegefamilie wechselt und fand heraus, dass Kinder, die älter als ein Jahr waren, häufig monatelang so taten, als bräuchten sie ihre Bezugsperson nicht. Sie waren weinerlich und ließen sich nur schwer beruhigen. Dieses abweisende Verhalten löste auch negative Gefühle bei den Betreuungspersonen aus, die sich in der Folge häufig weniger liebevoll zeigten. Diese Erkenntnis war für uns eine wichtige Grundlage. Wir wollten die Betreuungspersonen unterstützen fürsorglich zu sein, auch wenn die Kinder dies nicht einfordern.
Was macht das ABC-Programm so besonders im Vergleich zu anderen bindungsorientierten Programmen?
Dozier: Wir konzentrieren uns auf das Verhalten der Pflegeeltern, denn wenn sich dieses verändert, wirkt sich das positiv auf die Kinder aus. Außerdem geben wir den Eltern während der Sitzungen regelmäßig Rückmeldungen zu ihrem Verhalten. Diese Rückmeldungen folgen immer dem gleichen Schema. Wir beschreiben den Pflegeeltern, was gerade passiert, zum Beispiel: „Ihr Kind hat die Arme nach Ihnen ausgestreckt und Sie haben ihr Kind gleich auf den Arm genommen”. Dann erklären wir den Eltern, warum dieses Verhalten für das Kind wichtig ist: „Damit haben Sie ihrem Kind Fürsorge gezeigt” und zeigen ihnen, welchen Effekt das Verhalten für das Kind bedeutet. Diese Rückmeldungen machen Eltern sensibler für die Bedürfnisse ihres Kindes. Außerdem stärken sie das Vertrauen der Eltern in sich selbst und können sogar depressive Verstimmungen verringern.
ABC wird nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Ländern erfolgreich eingesetzt. Nun prüfen Sie gemeinsam mit der Karl Kübel Stiftung die Möglichkeit, ABC auch in Deutschland zu etablieren. Welche Chancen sehen Sie für das deutsche Pflegesystem?
Dozier: Für Pflegeeltern ist es besonders wichtig, fürsorglich und achtsam auf die ihnen anvertrauten Kinder einzugehen. ABC bietet eine hilfreiche, stärkenorientierte und schnelle Unterstützung, die genau dort ansetzt. Im Pflegesystem der USA hat sich das Programm als wirksam erwiesen und es wirkt sich positiv auf die Situation von Pflegekindern aus. Daher ist die Unterstützung der Karl Kübel Stiftung bei der Einführung von ABC in das deutsche Pflegekinderwesen ein sehr spannendes Unterfangen.