Mehr Aufklärung über Gleichberechtigung nötig

In Indien klaffen Gesetz und Realität bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter noch weit auseinander. Unser Projekt trägt dazu bei, die Diskrepanz abzubauen.

Viyakula Mary ist Direktorin unserer Partnerorganisation SAVE und setzt sich für die Gleichstellung von Frauen ein. © Karl Kübel Stiftung /SAVE

Im indischen Tiruppur, auch bekannt als Strick-Hauptstadt, sind rund 80 Prozent der Arbeitskräfte Frauen. In der Regel erfordert ihre Arbeit nur eine geringe Qualifikation und sie bekleiden kaum Positionen mit Entscheidungskompetenz; diese sind fast ausschließlich Männern vorbehalten.

Gemeinsam mit unserer Partnerorganisation Social Awareness and Voluntary Education (SAVE) haben wir dort ein Projekt initiiert, um Frauen in sozio-ökonomischer Hinsicht zu stärken, Opfern von Gewalt zu helfen und die Gleichberechtigung von Frauen zu fördern. Anlässlich des Weltfrauentags haben wir mit Viyakula Mary, der Direktorin SAVE, über die Lage der Frauen in Indien und in unserem Projekt gesprochen.

Wie steht es um die Rechte der Frauen in Indien?

Viyakula Mary: Zwar enthalten mehr als 80 Prozent der indischen Gesetze Maßnahmen zur Förderung und Durchsetzung der Gleichstellung der Geschlechter, dennoch ist Gleichberechtigung noch in weiter Ferne: Auf dem vom Weltwirtschaftsforum veröffentlichten Global Gender Gap Index 2021 steht Indien auf Platz 140 von 156 Ländern. Hinzu kommt, dass die Unwissenheit über die Gleichstellung der Geschlechter zur Ausbeutung von Frauen und Kindern in Familie, Gesellschaft und am Arbeitsplatz führt.

Unter welchen Bedingungen arbeiten Frauen in der Textilindustrie?

Mary: Sie haben weniger Zugang zu qualifizierten Arbeitsmöglichkeiten als Männer und werden schlechter entlohnt. Im Durchschnitt erhalten Frauen 20 Prozent weniger Lohn als Männer auf vergleichbaren Positionen. Die Schwäche der Frauen in wirtschaftlicher Hinsicht, im Bildungsbereich sowie mangelndes Bewusstsein für die Gesellschaft usw. wird von den Männern ausgenutzt, um außereheliche Beziehungen zu entwickeln, wodurch die Familien immer mehr zerbrechen und das Leben der Kinder beeinträchtigt wird. Außerdem machen Frauen immer wieder Gewalt - und Missbrauchserfahrungen, sei es am Arbeitsplatz, auf dem Nachhauseweg oder im eigenen Haushalt. 

Mit welchen Problemen kommen die Frauen zu Ihnen?

Mary: Sie suchen häufig Hilfe, weil ihre Männer ihnen nicht vertrauen und sie unrechtmäßig beschuldigen, eine außereheliche Beziehung zu haben. Nur weil sie sich vielleicht für die Arbeit zurecht gemacht und ein schönes Kleid angezogen haben. Frauen, die z.B. sexuell von Kollegen belästigt wurden, suchen Rat, weil sie Angst vor Rache und Scham haben, wenn die sexuelle Belästigung aufgedeckt wird.

Wie unterstützen Sie die Frauen in unserem gemeinsamen Projekt?

Mary: Durch viele verschiedene Maßnahmen. Um Frauen in wirtschaftlicher Hinsicht zu stärken, schulen wir sie, damit sie einer qualifizierten Arbeit nachgehen oder sich mit einem Kleingewerbe selbstständig machen können. Wir stellen auch Verbindungen zu Banken her, damit sie bei Bedarf einen Geschäftskredit erhalten. Wir klären Frauen über ihre Rechte auf und unterstützen sie, damit sie selbstsicherer werden und mehr Selbstvertrauen gewinnen. In Brainstorming-Workshops lernen sie zum Beispiel, wie sie sich Männern gegenüber behaupten können, wenn diese sich unangemessen Verhalten. Gleichzeitig ist es uns ein Anliegen, Männer für die Gleichstellung von Frauen zu sensibilisieren. Wir bieten Workshops für Männer an, in denen sie ihr Verhalten gegenüber Frauen reflektieren und andere Verhaltensweisen, Stichwort gewaltfreie Kommunikation, erlernen können. Darüber hinaus machen wir uns auf zivilgesellschaftlicher Ebene für die Gleichstellung der Geschlechter stark und schulen institutionelle Akteure, damit sie die Gesetze zum Schutz von Frauen kennen und durchsetzen können. 

Was muss sich strukturell ändern, um die Situation der Frauen in der Textilindustrie zu verbessern?

Mary: Die Gleichstellungspolitik in der indischen Textilindustrie muss effektiver umgesetzt werden. Es müssen auf allen Ebenen Kapazitäten aufgebaut werden, das heißt von den Top-Managern bis zu den Arbeiterinnen und Arbeitern in den Fabriken, insbesondere bei den Männern als Hauptakteure. Die Bemühungen müssen in eine geschlechtsspezifische Strategie integriert werden, die im Laufe der Zeit umgesetzt werden muss. Der soziale Dialog zwischen den verschiedenen Interessengruppen ist dabei entscheidend.